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"Träume sind wichtig fürs Überleben"

Unsere Projektpartnerin erlebt den Krieg in Dnipro, das zunehmend unter russischen Beschuss genommen wird. Ein Gespräch mit Irina Gritsay.

Irina wie geht es dir?

Es ist schwierig, diese Frage zu beantworten. Es herrscht Krieg, ein harter, brutaler Krieg. Und alles unterliegt seinen Gesetzen. Schlaflose Nächte, die Sorge um die Lieben und das Vaterland. Jeder Tag beginnt und endet mit einer Studie über die Situation an der Front. Langsam veränderst du dich von einem menschlichen Wesen in ein Rädchen in der Kriegsmaschinerie. Oft stellt man sich die Frage: "Warum? Warum? Warum ist die Welt so zerbrechlich und instabil, dass ein einziger Mann das Schicksal von Millionen Menschen zerstören, diese Welt in den Ruin treiben kann, indem er Städte auslöscht, zehntausende von Menschen tötet, ein ganzes Volk, ein ganzes Land hasst und zu vernichten versucht, während er anderen Ländern mit der gleichen Vergeltung droht?" Aber es gibt keine Antwort auf diese Fragen, nur die Einsicht, dass wir mit zusammengebissenen Zähnen kämpfen müssen, dass wir stark und mutig sein müssen, mit klarem Verstand und warmem Herzen, inbrünstig die Ukraine liebend.

Was ist mit deinen Kindern? Sind sie bei euch in Dnipro, oder habt ihr sie an einen sichereren Ort geschickt?

Wir haben uns entschieden, als Familie zusammen in Dnipro zu bleiben. Unsere Region Dnipropetrowsk grenzt an die Regionen Donezk, Saporischschja und Charkiv. In diesen Regionen finden heftige Kämpfe statt. Die Besatzer führen auch Raketenangriffe in einigen Teilen der Region Dnipropetrowsk durch. Als Mutter mache ich mir natürlich jeden Tag Sorgen um die Sicherheit meiner Kinder. Ich hoffe aber sehr, dass wir unser Zuhause, unsere Heimat, die wir so sehr lieben, nicht verlassen müssen. 

Ende April schicktest du uns einen herzzerreißenden Brief aus Dnipro, in dem du die Situation und deine Gefühle nach damals 59 Kriegstagen beschrieben hast. Hat sich seither etwas für dich geändert?

Viele Menschen haben ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Lieben, ihr Zuhause verloren, sie haben alles verloren, was sie ihr ganzes Leben lang gespart hatten; und alle Menschen, einschließlich meiner Familie, haben ihre gewohnte Lebensweise verloren: eine Tasse Kaffee am Morgen im Vorgarten oder auf dem Balkon, ein Schulausflug mit den Kindern, eine aufregende kreative Arbeit, die Kommunikation mit interessanten Menschen, internationale Konferenzen, die Entwicklung der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Zusammenarbeit, die Arbeit in der Öffentlichkeit, Sport, Hobbys, Reisen, Urlaub, gemütliche Abende mit Freunden bei einem guten Glas Wein, ein romantischer Abend mit dem geliebten Ehemann. Wir träumen seltener, aber Träume sind wichtig fürs Überleben. Sie binden uns an ein friedliches Leben, geben uns Kraft und stärken unseren Glauben.

Was hat der Krieg noch verändert? Ich staune immer wieder über das Ausmaß an Grausamkeit und Feigheit der Besatzer auf der einen Seite, aber auch über die Größe, die Menschlichkeit und das Engagement guter Menschen in Europa und der Welt auf der anderen Seite. Ohne ihre Hilfe wäre es viel schwieriger, die dunklen Mächte zu bekämpfen. Ich bin, wie alle meine Landsleute, den Anführer*innen der Länder und Völker, die uns unterstützen und alles für den Sieg des Guten über das Böse, für den Sieg der Freiheit über die Tyrannei tun, unendlich dankbar. Herzlichen Dank!

Du hast uns mit dem erwähnten Brief auch ein Foto von dir in Uniform geschickt. Bist du Teil der Armee?

Ich bin Reserve-Offizierin. Wie viele Frauen habe ich mich den Streitkräften angeschlossen als der Krieg 2014 begann. Seitdem wurden zahlreiche Änderungen am rechtlichen Rahmen vorgenommen, um den Dienst von Frauen in vielen Positionen in der Armee zu legitimieren. Schon in den ersten Tagen nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022 standen Frauen vor den Einberufungsbüros Schlange, um sich für die Armee zu melden, für die Territorialverteidigung, die Nationalgarde oder die Polizei. Frauen waren der größte und aktivste Teil der Freiwilligenbewegung. An den heißesten Orten kämpfen Frauen mutig und gleichberechtigt mit Männern in den verschiedensten Positionen: Sanitäterinnen, Scharfschützinnen, Mitglieder und sogar Kommandantinnen von Panzerwagenbesatzungen, Artillerieeinheiten, Kommandantinnen von Militäreinheiten. Heute ist das ganze Land eine einzige Faust, und die Frauen sind ein wesentlicher Bestandteil davon.

 

Veröffentlicht am: | Autorin : Irina Gritsay

Autorin
Irina Gritsay

Irina Gritsay ist promovierte Rechtswissenschaftlerin und Professorin an der juristischen Fakultät der Staatlichen Universität für innere Angelegenheiten in Dnipro. Sie ist Partnerin im Projekt "Gemeinsam für Demokratie".

 

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